Bewegtes Beiwerk
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Bewegtes Beiwerk

„Die symptomhafte Verzweigung des dargestellten Körpers und sein ‚bewegtes Beiwerk‘ ist in den Gegenständen der Warburgschen Studien allgegenwärtig. In dieser Art ‚Film‘, den ich hier vor mir sehe — der allmähliche Fall der Ninfa —, nimmt diese Verzweigung die Form einer sehr langsamen Trennung der Nacktheit von dem sie anfänglich noch umhüllenden Stoff an: Als ob die Gewandfalten der Ninfa zu Boden glitten, ganz von allein, in Zeitlupe, und die junge Frau entkleideten, kurz bevor sie ihrerseits den Boden erreicht, wo der Stoff sie wie ein Laken auffängt. […] Aus dieser Bewegung fällt ein Rest, ein wunderbares Überbleibsel heraus: der Faltenwurf selbst, der figurale Autonomie gewinnt.“

(Didi-Hubermann, Georges: Ninfa moderna. Über den Fall des Faltenwurfs, Zürich 2006, S. 19f.)

 

„Die gesamte Entwicklung bestätigt nur die Rolle, die Warburg dem Faltenwurf als ‚pathetischem Werkzeug‘ zuerkannt hat: Die Stoffe erscheinen häufig […] als ‚empfindliche Oberflächen‘, als dynamophore Felderder gesamten Figuration.“

(Didi-Hubermann, Georges: Ninfa moderna. Über den Fall des Faltenwurfs, Zürich 2006, S. 24.)

 

Haacke bemerkte selbst zu der Arbeit: „Das windbewegte Tuch verhält sich wie ein Organismus. Die Sensibilität des Windspiels entscheidet darüber, ob das Gewebe zum Leben erweckt wird.“ Eine Falte also, das Aufblähen und Nachgeben des Chiffons macht diesen körperlich, denn sie reagiert antwortend auf die Körper im Raum. Hier zeigt sie sich als Reaktion auf den Ventilator und den bewegten Luftkörper. Die Falte offenbart einen Dialog der innerhalb des Raumes stattfindet. In dem Raum sind die Rezipienten und der Dialog wird meist unbemerkt auch von deren Körpern (siehe hier Helmhold: Muskelgefühle des Leibes in Affektpolitik und Raum) und ihren Erweiterungen, den Kleidern, geführt.
In den oszillierenden Bewegungen Haackes fällt Didi-Hubermans Ninfa. Als stofflicher Hinweis auf einen Körper wird die Falte selbst – und so auch der gesamte Chiffon Pars pro Toto – körperlich in der eigenen Präsenz. Jeder Part des textilen Materials trägt das Potential einer baldigen Bewegung, dem andauernden Fall der Ninfa, der sich einer Zeit entledigt hat. Der textile Körper wird Körper, weil er schwingend den Raum zum Schwingen bringt.

(Zitat am 18.03.2021 online entnommen)

 

„Als ob der Grund [fond] jeder Monade aus unendlich vielen kleinen Falten (Inflexionen) bestünde, die nach allen Richtungen unaufhörlich entstünden und vergingen, so daß die Spontanität der Monade wie die eines Schlafenden ist, der sich auf seinem Bett hin- und herwälzt. Die Mikroperzeptionen oder Welt-Repräsentanten sind diese kleinen Falten in alle Richtungen, Falten in Falten, auf Falten, nach Falten, ein Gemälde von Hantai oder eine toxische Halluzination bei Clérambault. Und es sind diese kleinen dunklen, verworrenen Perzeptionen, die unsere Makroperzeptionen zusammensetzen, unsere bewußten, klaren und deutlichen Apperzeptionen: niemals tauchte eine bewußte Perzeption auf, wenn sie nicht eine unendliche Gesamtheit kleiner Perzeptionen integriert, welche die vorangegangene Makroperzeption aus dem Gleichgewicht bringen und die folgende vorbereiten. Wie könnte auf Lust Schmerz folgen, wenn nicht tausend kleine Schmerzen oder vielmehr Halbschmerzen bereits in der Lust verstreut wären und sich im bewußten Schmerz vereinigten? So plötzlich ich dem Hund beim Fressen einen Stockschlag versetze, er wird kleine Perzeptionen meines Heranschleichens, meines feindlichen Geruchs, des Stockhebens gehabt haben, die die Grundlage des Umschlags von Lust in Schmerz bilden. Wie könnte Hunger auf Sättigung folgen, wenn nicht tausend kleine elementare Hunger (nach Salz, nach Zucker, nach Fett usw.) in verschiedenen Rhythmen unmerklich in Gang kämen? Und umgekehrt, wenn die Sättigung auf den Hunger folgt, dann durch die Befriedigung all jener kleinen besonderen Hunger. Die kleinen Perzeptionen sind der Übergang einer Perzeption zu einer anderen, ebenso wie Komponenten jeder Perzeption. Sie konstituieren den tierischen oder beseelten Zustand par excellence: die Unruhe. Es sind ‚Stacheln‘, kleine Knicke die in der Lust ebenso wie im Schmerz gegenwärtig sind. Die Stacheln sind die Repräsentanten der Welt in der geschlossenen Monade. […] Makroskopisch sind die Perzeptionen von dem Streben, als Übergang einer Perzeption in eine andere, unterschieden. Das ist die Bedingung der großen zusammengesetzten Falten, der Drapierungen. Aber die mikroskopische Ebene unterscheidet die kleinen Perzeptionen nicht mehr von den kleinen Neigungen: Stacheln der Unruhe, die die Instabilität jeder Perzeption ausmachen.“

(Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 2000, S. 141f.)

 

1./2. The Carters, Apeshit, directed by Ricky Saiz, produced by Iconoclast

3. Ulla von Brandenburg, Folds, 2016, Chlor auf Baumwollleinwand und Haselnusszweig, 220 x 134 cm, Courtesy die Künstlerin und Produzentengalerie Hamburg, Foto: Helge Mundt

4. Hans Haacke, Blue Sail, 1965/2001, Chiffon, Ventilator, Fäden, Gewichte, 110 x 300 x 300 cm, Sammlung Gegenwartskunst, MGKSiegen, Dauerleihgabe Peter Paul Rubens-Stiftung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Philipp Ottendörfer

5. Nicolas Poussin, Der Triumph des Pan, 1636, Öl auf Leinwand, 135,9 x 146 cm, National Gallery London

6. Taschentuch, private Aufnahme

 

Date

18. Februar 2020